Und plötzlich warst du tot

 

Da stand ich nun. Ich starrte aus dem Fenster im Flur meines Arbeitgebers und schaute auf die Bahntrasse gegenüber. Ich stand reglos. Erstarrt. Konnte mich nicht rühren. Das Smartphone in meiner Hand fühlte sich tonnenschwer an. Ich bewegte mich nicht. Menschen liefen zur Bahn, hetzten zum Bus, lachten oder ärgerten sich. Ich konnte mich nicht mobilisieren. Mir war, als hätte die Welt sich aufgehört zu drehen. Stillstand. Und völlige Dunkelheit. Ich war unendlich traurig und Gedanken schossen mir durch den Kopf.

Langsam senkte ich den Blick und schaute auf das Display meines Smartphones. Tränen liefen mir über die Wangen bei dem Anblick des letzten Anrufers. MAMA stand dort in großen Lettern. Mama war im Krankenhaus. Sie hatte seit Wochen schon Schmerzen. "Alles normal", sagte man uns. "Das ist wahrscheinlich Stress". Mama war Krankenschwester in einer Dialyse-Praxis. Ja, sie hatte Stress. Vor allem mit einigen Kollegen - auf menschlicher Ebene. Den Stress, den der Job mit sich brachte, mochte sie. Sie liebte ihre Patienten - und die liebten sie. Und jetzt diese Nachricht. Nichts war mehr normal. Ab jetzt würde alles anders werden.

Ich freute mich als der Anruf von Mama kam - sie wollte mich gestern schon nach der großen Untersuchung angerufen haben. Als der Anruf ausblieb hatte ich mir noch nichts schlimmes gedacht - Hey, sie hat bestimmt viel Besuch im Krankenhaus. Ich nahm das Gespräch entgegen. Beim Klang ihrer Stimme wusste ich sofort, dass alles andere als etwas Gutes geschehen war. Sie sagte mir kurz und knapp, dass wir zusammen nun einen schweren Weg gehen müssten. Die Diagnose habe sie selbst aus dem Konzept gebracht. Sie wolle am Wochenende mit meinem Bruder und mir zusammen sein. Es gäbe viel zu besprechen. Dann hatte Mama tränenerstickt aufgelegt.

Es war Krebs. Krebs der übelsten Sorte. Krebs, der böse ist. Krebs, der nicht heilbar ist. Krebs, der Menschen tötet. Krebs, der meine Mama sterben lassen würde. Bauchspeicheldrüsenkrebs.

Mir wurde speiübel. Millionen Neuronen tanzten Macarena in meinem Kopf. Leider nicht synchron. Der Kanon drohte mich zu überwältigen. Mir schossen die Tränen ins Gesicht. Ich sackte in die Knie und konnte mich gerade noch an der Fensterbank abstützen. "Ich muss hier weg" dachte ich nur noch, rannte zu meiner Chefin stammelte ein paar Worte von wegen Familiennotfall, packte meine Sachen und rannte zur Bahn auf die ich eben noch gestarrt hatte. Nun war ich mobil, angetrieben von meiner Angst. Ich lachte nicht wie andere Menschen in der Bahn. Ich war entschlossen.

Zu Hause angekommen verfiel ich in blinden Aktionismus. Was bedeutet Bauchspeicheldrüsenkrebs? Und wo ist diese Drüse überhaupt? Kann man das operieren? Wann kann man mit einer Chemo beginnen? Ich googelte rauf und runter und nach kurzer Zeit setzte völliges Erschüttern und Verstehen ein. Mein Aktionismus geriet ins Wanken und wich völliger Gewissheit: Meine Mama würde an Bauchspeicheldrüsenkrebs sterben! Wieder schossen mir Tränen ins Gesicht, es schüttelte mich und ich zitterte am ganzen Körper. Minutenlang. Haltlos.

Ich weiß nicht wie lange ich tatsächlich so da saß. Irgendwann rief ich meinen Bruder an und fragte, ob er schon Bescheid wüsste. Natürlich wusste er das. Er ist mein großer Bruder. Er wusste immer alles als Erster. Ich, die Kleine, erfuhr alles immer zuletzt. Das ärgerte mich in dem Moment wie jedes Mal wieder - und dann schoss mir der Gedanke durch den Kopf, dass das wohl einer der letzten Momente war, in denen Mama meinem Bruder Dinge zuerst erzählen würde. Und wieder Tränen, Zittern, Traurigkeit.

In den folgenden Monaten lebte ich bei Mama. Ich half ihr im Haushalt, beim Einkaufen, bei Arztbesuchen und bei allem Papierkram. Sie hatte sich gegen eine Behandlung entschlossen und wollte diesen letzten Kampf nicht aufnehmen. Sie war so ungeheuer müde vom Kämpfen.

Es gab viele Momente, in denen ich hoffte gleich aufzuwachen und alles sei nur ein böser Traum gewesen. Es gab Momente, in denen ärgerte ich mich. Momente, in denen ich böse war. Momente, die voll von Gram und Enttäuschung waren. Momente, in denen ich viele Tränen vergoss.
Aber vor allem gab es die vielen Momente, in denen wir herzlich gelacht haben. Momente, in denen wir uns gegenseitig Trost spendeten. Momente, des Schweigens und Momente des Redens. Momente, in denen alles gesagt war und Momente, die alles aufklärten. Momente zwischen Mutter und Tochter. Momente voller Liebe.

Mama starb 8 Monate nach ihrer Diagnose. Sie hatte dem Tod noch ordentlich Zeit abgerungen. Wir verabschiedeten uns still an ihrem anonymen Urnengrab inmitten grüner Wiesen, bunter Blumen und vieler Bäume. So wie sie es wollte.

Danke für den gemeinsamen Weg.
Danke für deine Hand, die so hilfreich war.
Danke für deine Nähe, die uns Geborgenheit schenkte.
Danke, dass es dich gab.

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